Wie lässt sich das beschreiben, wenn eine Ausstellung den Eindruck vermittelt, dass sie gut oder sogar außergewöhnlich gut ist? Was wird da angesprochen – emotional, intellektuell oder ästhetisch? Sind das bestimmte Themen, die etwas mit dem Hier und Heute zu tun haben, also auch mit den Provokationen der Politik, der sozialen und wirtschaftlichen Ausbeutung im internationalen Markt von Waren und Arbeit oder der dramatischen Schieflage des Planeten? Sind das besondere Stimmungen, eine bestimmte Atmosphäre oder eine verführerisch, sinnlich räumliche Erfahrung?

Müssen da Bild- und Raumwelten vermittelt werden, die überraschen, provokant oder irritierend sind? Oder sollten die Dinge eher rätselhaft bleiben, unsere Wahrnehmung in Frage stellen und unser Nachdenken zu keinem Ergebnis kommen lassen? Sind der erste Blick, der erste Eindruck entscheidend?

‘We Talk’ wird der Versuch sein, sich diesen Fragen über die Rolle der zeitgenössischen Kunst anzunähern, anhand von Ausstellungen und Werken, die uns begegnen. Wir möchten nichts geringeres, als zu versuchen zu formulieren, was Kunst auszeichnet. Oder genauer, wir möchten beschreiben, was herausragende Kunst uns über ihre Bedeutung in der Gegenwart vermittelt.

Rayyane Tabet, Basalt Shards, 2017 – Ausstellungsansicht, Carré d’Art, Nîmes

Im Carré d’Art – Musée d’Art Contemporain in Nîmes hat der in Beirut geborene Künstler Rayanne Tabet eine Ausstellung realisiert, die sich für solche Fragen anbietet. Sie ist nämlich herausragend und einfach ungewöhnlich gut.

Ja, es gibt Arbeiten auf Papier, Zeichnungen oder genauer Abreibungen, Frottagen. Es gibt skulpturale Arbeiten, historische Dokumente, Transportpapiere und installative Situationen, die konzeptuell und narrativ miteinander verknüpft sind. Es gibt ein großes Spektrum aus dem Repertoire, das Künstler heutzutage abspielen können. Aber das ist nicht das wesentliche. Viele Ausstellungen sehen mehr oder weniger so aus.

Viel wichtiger ist, dass beim Herumgehen, Sehen der Werke und Lesen der kurzen Texte der Eindruck entsteht, dass da einfach mehr ist, als nur dieses direkt Wahrnehmbare. Es entwickelt sich ein größerer Zusammenhang. Der Raum um die Objekte herum erweitert sich. Er wird zu einem gedanklichen Raum, in dem spannende Geschichten miteinander verbunden sind. Persönliches aus der Familiengeschichte, die Lebenswege unterschiedlicher Generationen, historische Personen aus der Zeitgeschichte und Fragen zum spät-kolonialistischen Umgang mit Kulturgütern deuten sich an. Die Schwierigkeiten des angemessenen Umgangs mit archäologischen Funden, des Raubs, der Zerstörung, der Restaurierung und der Rückgabe von Kunstwerken an die Länder, aus deren kultureller Geschichte sie stammen – all dies ist in der Ausstellung präsent.

Rayyane Tabet, Basalt Shards, 2017 – Ausstellungsansicht, Detail, Carré d’Art, Nîmes

Dabei kommt alles ganz leicht daher. Die Ausstellung wirkt wie der Entwurf für eine große Erzählung. Sie weist über das direkt Gesehene hinaus und vermittelt eine Stimmung die von einem tiefen Respekt gegenüber der komplexen Wirklichkeit bestimmt ist. Es geht wirklich um Achtsamkeit, Behutsamkeit, einen liebevollen Umgang mit der fragilen Wirklichkeit. Das ist beachtlich, das spürt man. Es ist wahrscheinlich eine ethische Haltung zur Wirklichkeit und ein Hinweis, wie man mit den fragilen Gleichgewichten und erheblichen Ungleichgewichten umgehen könnte. Sie durchdringen, andeuten, vorsichtig darauf hinweisen, nie belehrend. Eine wirklich grandiose Ausstellung, auch wenn sie unsere anfangs formulierten Fragen eher noch komplexer hat werden lassen.

Ein ethisch fundierter, sehr achtsamer Umgang mit der widersprüchlichen Realität? Sollte das gute Kunst auszeichnen? In was für ein Dilemma bringt uns das denn, wenn wir mitten in einer ungebremsten Warenflut und der kompletten Vermarktung zeitgenössische Kunst doch eher als konsumierbares Entertainment erleben.

Zersplittert, aufgeteilt, in Teile auseinandergebrochen, zerborsten, zerstört, verschollen, über die ganze Welt verteilt oder für immer verloren, das ist wohl der Lauf der Dinge für viele Gegenstände auf ihrer Reise durch die Zeitgeschichte von der Vergangenheit in die Zukunft. Diese Tatsache ist eines der Themen, die in der Ausstellung auftauchen.

Rayyane Tabet, Genealogy, 2016, ongoing – Ausstellungsansicht, Carré d’Art, Nîmes

Auch das persönliche Erbe kann einem solchen Prozess des Verschwindens unterliegen. Vor allem, wenn es der ausdrückliche Wunsch des Verstorbenen ist, dass dies Erbe immer weiter unter den folgenden Generationen aufgeteilt werden soll.

Die Phosphorbombe, die am 22. November 1943 das Tell Halaf Museum in Berlin traf, ließ auch die archäologischen Funde dort in über 27.000 Fragmente zerbersten, die inzwischen wieder weitgehend zu Skulpturen und architektonischen Elementen zusammengefügt werden konnten. Doch gut 2000 Bruchstücke des Basalgesteins ließen sich nicht mehr zuordnen.

Solche Geschichten stehen hinter der wunderbaren Ausstellung im Carré d’Art in Nîmes, die in sechs Sälen sechs Werkgruppen des libanesischen Künstlers Rayyane Tabet präsentiert.

Rayyane Tabet – Fragments
Carré d’Art – Musée d’Art Contemporain
Nîmes
April – 12.09.2019