Der Besuch der Ausstellung ‘I am Gong’ von Dora Budor in der Kunsthalle Basel war eine Überraschung. Zunächst wirkte die Ausstellung einfach recht gewöhnlich. Eine schöne Abfolge von Werken, den hohen Standards der Kunsthalle Basel durchaus angemessen, aber nicht außergewöhnlich. Erst allmählich entwickelte sie während des Besuchs eine suggestive Kraft, eine sinnlich intellektuelle Verführung und Verzauberung, die dann beim späteren Nachhall und Nachdenken deutlich machte, dass der gesamte Baukörper der Ausstellungsräume als Gesamtkunstwerk konzipiert worden war. Es wurde deutlich, dass über die einzelnen Werke hinaus, die Ausstellung selbst als komplexes Kunstwerk gelesen werden kann. Im ersten Beitrag zu ‘We Talk’ zur Ausstellung ‘Fragments’ von Rayyane Tabet im Carré d’Art in Nîmes hatte ich als wichtiges Kriterium für die Qualität von zeitgenössischer Kunst eine bestimmte Einstellung oder Haltung zur Wirklichkeit angesprochen. Das ist eine schwammige und unklare Formulierung. Gerade weil wir es bei der zeitgenössischen Kunst hauptsächlich mit Objekten zu tun haben, die in der Luxuswarenwelt eines ästhetisierten und intellektualisierten Konsums ihren Platz einnehmen und in einem kommerzialisierten Ausstellungsbetrieb um Medienresonanz wetteifern müssen, wären präzisere Angaben erforderlich. Die Überlegung, ihre Qualität als Kunst läge in einer bestimmten reflektierten Positionierung zur Wirklichkeit als sozialem, politischem und gedanklichem Konstrukt, scheint naheliegend. Sie bleibt jedoch vage und reichlich naiv, wenn es nicht gelingt, herauszufinden, wodurch sich diese Positionierung denn spezifisch auszeichnet.
Ich hatte in den vergangenen 2 Jahren mehrmals die Gelegenheit, den sogenannten ‘Block Beuys’, die sieben Räume umfassende Installation von Joseph Beuys im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, zu besuchen. Dieses völlig unverständlich bleibende Ensemble ist und bleibt einfach beeindruckend. Es ist ein grandioses künstlerisches Vermächtnis, das durch seine provozierende Intelligenz des Arrangements und seine hermetische Schönheit über das rein Objekthafte hinaus auf den Künstler selbst verweist. Die Objekte sind eher abgestellt als ausgestellt. Der Block verweist auf den prozessualen Aspekt eines jeden gelungenen Kunstwerks. Er verweist auf die Haltung und die Lebensphilosophie, letztendlich auf das Bild, das sich ein Künstler oder eine Künstlerin von der Welt und der Rolle des Menschen in ihr machen. Das Kunstwerk in seiner visuellen und faktischen Objektivität ist die eine Sache. Vielleicht lässt es sich aber nicht so ohne weiteres abtrennen von der philosophisch ethischen Einstellung des Künstlers oder der Künstlerin zur Welt, wenn es um seine Bewertung und Einschätzung geht.
Einen vergleichbaren Eindruck wie der Block Beuys vermittelte auch die Ausstellung ‘I am Gong’. Während es beim Block Beuys aber einen klaren Hinweis auf die Abwesenheit des Künstlers als Brennpunkt der Intentionen und Kraft des Werks gibt, gelingt es Dora Budo,r diesen performativen und intentionalen Aspekt von der Person weg auf die äußere Realität zu wenden. Die Wirklichkeit da draußen, außerhalb der Kunst, und ihre Prozesse haben einen Einfluss auf Form und das sinnlich Wahrnehmbare des Kunstwerks.
Vielleicht könnten wir sagen, es ist die Arbeitsweise und die Herangehensweise der Künstlerin oder des Künstlers, die im Kunstwerk ablesbar die Grundlagen für die Kriterien guter Kunst entfalten. Die Arbeitsweise verweist auf den Umgang mit der Realität. Sie gibt Hinweise auf den Bezug zur Wirklichkeit. Das Kunstwerk vermittelt diese Haltung als Ergebnis des Arbeitsprozesses. Es ist wie ein Wein, der alles über seine Lage, Produktion und Philosophie preisgeben kann.
Gehen wir aber noch einmal konzentriert durch einige Teile der Ausstellung, um zu verstehen, wie nicht nur Haltungen Form werden, sondern auch die Realität selbst.
Wie in mehr oder weniger allen Ausstellungen der Gegenwart sind in den fünf Sälen der Kunsthalle Wandobjekte, skulpturale Ensemble, Leere und eine raumfüllende Installation präsentiert.
Auf den ersten Eindruck ist da also nicht so viel, was sich von üblichen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst unterscheidet. Der oberflächliche Blick könnte schnell zu dem Schluss kommen, passabel, ja durchaus. Immerhin ist es die Kunsthalle Basel, eine renommierte Institution, ein wichtiger Schritt für das Versprechen einer Karriere im Kunstmarkt.
Im ersten Saal der Kunsthalle Basel sind drei Messingplatten an den Wänden, deren Oberflächen chemisch oder elektrochemisch behandelt wurden und unweigerlich eine Assoziation an die ‘Oxidation Paintings’ von Andy Warhol hervorrufen. Im Raum stehen noch weitere fünf Sitzelemente aus den 1970er Jahren, die teilweise von schwarzgrauer Asche bedeckt sind. Im nächsten Saal liegt ein etwa vier qm großes Stück alter Parkettboden, der mit irgendeinem Schleim an einigen Stellen behaftet ist. Dann folgt ein leerer Raum mit einem mattroten Teppichboden.
Im vierten Saal stehen drei Vitrinen, die aus einem naturhistorischen Museum stammen könnten. Es handelt sich um eine Art Terrarien für Hobby-Vulkanologen. In den dort inszenierten Miniaturlandschaften aus feinem Sand oder Staub lassen Luftgebläse von Zeit zu Zeit kleine Vulkane ausbrechen und Sandstürme ausbrechen.
Es ist eine liebenswerte Inszenierung, die mich an eine der Illustrationen von Antoine de Saint-Exupéry zum ‚Le Petit Prince‘ erinnert. Sie zeigt den kleinen Prinzen, wie er die Vulkane auf seinem Planeten pflegt und ausfegt. Darüber hinaus kommt dann noch der Satz aus dieser Erzählung in den Sinn. ‘Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist unsichtbar für die Augen.’
‘On ne voit bien qu’avec le coeur. L’essentiel est invisible pour les yeux.’
Im letzten Saal sind hinter durchsichtigen Planen in fahlem, gelblichen Licht Bauschutt und Fragmente von Architekturteilen abgelegt. Gelegentlich fliegt ein kleiner ferngesteuerter mechanischer Vogel über diese endzeitliche Landschaft.
Erst allmählich beim Hinausgehen wird mir die Soundkulisse in den Ausstellungsräumen bewusst. Die ganze Kunsthalle ist angefüllt von Geräuschen. Manchmal sind sie eher körperlich physisch unterschwellig als tiefe Frequenzen fühlbar, wie im Inneren eines Musikinstruments. Erstaunt kehre ich zurück in den ersten Saal. Ich fange an, zu zuhören Dort werden die Klänge identifizierbarer. Sind es Baugeräusche draußen von der Straße? Atmen die Ausstellungsräume im Klang und nach dem Takt der Außenwelt?
Gleichsam aufgeweckt aus der professionellen Ausstellungsbesuchsroutine gehe ich hin und her, sehe, dass Asche auf eine der Design-Möbel-Arrangements herabrieselt. Das skulpturale Ensemble verändert sich. Es ist nicht abgeschlossen. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, dass viele Objekte in der Ausstellung sich beständig wandeln und ihre Form verändern. Automatisierte, programmgesteuerte Prozesse lassen die Asche herabrieseln, den kleinen Flugroboter seine Kreise ziehen und steuern die vulkanischen Staubausbrüche. Die kroatische Künstlerin, die in New York lebt, hat das Grundarrangement aufgebaut und überlässt es dann mechanisiert, performativen Abläufen. Das Kunstwerk ist von Moment zu Moment in einem anderen Zustand. Es ist nie zu Ende, hat nie eine feste abgeschlossene Form. Selbst die Leere besteht aus Klängen. Ein reaktives Soundsystem ist in den Hohlräumen hinter und zwischen den Wänden installiert. Es macht die Kunsthalle zum Klangraum. Die Ausstellung selbst unterliegt einer performativen Entwicklung.
‘I am Gong’ ist darüber hinaus als ein fein verzweigtes Nervensystem angelegt, das seine Impulse auch aus der historischen und architektonischen Nachbarschaft der Kunsthalle erhält. Sie wurde 1872 nach den Plänen des Architekten Johann Jakob Stehlin-Burckhardt fertiggestellt. Vier Jahre später entstand gegenüber der auch von Stehlin-Burckhardt entworfene Basler Musiksaal. Der mechanische Vogel fliegt nach Richtungsvektoren, die aus der Partitur des ersten Stücks entwickelt wurden, das 1876 zuerst in diesem Musiksaal aufgeführt wurde. Der Saal selbst, der zu den akustisch herausragenden Musiksälen in Europa gehört, wird zum Klangkörper für einen Teil der Ausstellung. Allerdings zeichnen die dort installierten Mikrofone keine Musikaufführung auf, sondern die aktuellen Geräusche einer Baustelle. Der Musiksaal wird momentan unter der Leitung von Herzog & de Meuron restauriert. Bestimmte Intensitäten werden in die Ausstellungsräume übertragen und steuern den Auswurf der Asche. So könnten wir die Mikrofone im Musiksaal auch allgemein als Sensoren verstehen, die in den Alltag hinein- und aus der Sphäre der Kunst herausreichen. ‘I am Gong’ ist einfach, das wird mit langsam deutlich, grandios, eine herausragende Ausstellung.
Und dann blitzt das auf, das sich auf den eingangs erwähnten Block Beuys bezieht. Der Ansatz der sogenannten ‘Sozialen Plastik’. Das Verständnis der Gesellschaft und des Konstrukts der sozialen, wirtschaftlichen und ethischen Realität als Skulptur. Ich bekomme den Eindruck, dass die Kunst der Gegenwart sich auch mit der Gegenwart beschäftigen sollte. Sie sollte sich nicht davor scheuen, sich die Hände schmutzig zu machen und offen zu sein für Veränderungen und Anpassungen, die diese Gegenwart provoziert. Die Mantras der Kunstwelt verlieren zunehmend ihre Macht und Wirksamkeit. Die Wahrnehmung schärfen, die Welt anders und differenzierter wahrnehmen, Übersehenes und an den Rand Verdrängtes hervorheben, all solche und vergleichbare Behauptungen über die Kraft der Kunst, erweisen sich im Markgeschehen als leere Werbesprüche, die einer Marketingstrategie zu entsprechen scheinen und Inhalte als Surrogat vorgaukeln.
Erst wenn die Kunst der Gegenwart ihre Bedeutung für die heutigen Fragen, Empfindungen, Hoffnungen und Ängste bewiesen hat, wird sie einen Anspruch auf Dauer haben und ihren historischen Wert erhalten. Der Markt und der Preis eines Werks können diesen Prozess nicht ersetzen.
Das ist die herausragende Qualität dieser Ausstellung, diese Fragen nicht nur zu provozieren, sondern eine elegante und ästhetisch faszinierende Lösung aufzuzeigen, wie das funktionieren könnte, das ‘Hinausgehen’ in die Wirklichkeit. Vielleicht ist das eines der Kriterien herausragender Kunst der Gegenwart? Sich zu vernetzen, zu verbinden und in einen Dialog mit der Realität zu treten? Kein Wolkenkuckucksheim, kein Elfenbeinturm, keine autonome Kunst; oder genauer, eine ganz anders gedachte Autonomie. Eine solche Kunst hat ein festes Standbein in der Realität und einen Wert unabhängig vom Marktgeschehen. Sie suggeriert keine ewigen Themen, sondern entdeckt den Wandel, die Transformation der Wirklichkeit, den dringend notwendigen Umbau der Welt.
Dora Budor – I am Gong
Kunsthalle Basel
24.05. – 11.08.2019